Hindutempel: Brücke zwischen Göttern und Menschen

Hindutempel: Brücke zwischen Göttern und Menschen
Hindutempel: Brücke zwischen Göttern und Menschen
 
Für jeden gläubigen Hindu bedeutet das Leben eine Pilgerfahrt, die von der Geburt bis zum Tod an vielen unterschiedlichen Stationen vorbeiführt, und selbst der Tod gilt nicht als letzte Station, da er nicht zwangsläufig den Kreislauf der Wiedergeburten aufhebt. Um die Befreiung von jeglicher existenziellen Bindung zu erreichen, muss der Mensch versuchen, dem Gott näher zu kommen, ja eins mit ihm zu werden. Diese Verschmelzung mit dem Gott gelingt nur wenigen durch einen metaphysischen Erkenntnisprozess; für die Mehrzahl der Menschen ist es einfacher, zu einem der unzähligen heiligen Orte zu pilgern, um sich hier in das Bild der Gottheit zu versenken und sie durch Gaben und Gebete zu verehren und günstig zu stimmen.
 
Pilgerorte sind in großer Anzahl über ganz Indien verteilt; es sind heilige Plätze, die häufig außerhalb von Städten in landschaftlich reizvoller Umgebung liegen. Die Tempel wurden bevorzugt in der Nähe einer Wasserstelle gebaut, da Wasser Reinheit und Tiefe symbolisiert und nicht nur den Körper, sondern auch die Seele reinigen soll. In der hinduistischen Geisteswelt bezeichnet der Tempel den heiligen Ort, an dem sich die Götter manifestieren und wo sich die Welten der Menschen und Götter berühren.
 
Zu Beginn der europäischen Zeitrechnung kam es durch nachlassenden Einfluss des Buddhismus zu einer Wiederbelebung und Stärkung des Hinduismus in den breiten Volksschichten. Parallel dazu entwickelte sich auch der hinduistische Tempelbau in Indien. Bis zur Zeitenwende wurden die hinduistischen Götter durch Symbole und Opferhandlungen verehrt, wobei man auf die Hilfe eines Brahmanen angewiesen war, da nur dieser die komplizierten Rituale beherrschte. Mit dem Tempelbau wurde auch das Bild der Gottheit als Abbild oder in symbolischer Form geschaffen, und jeder konnte sich seinem Gott direkt, ohne Vermittler, nähern.
 
Die frühesten hinduistischen Tempel bestanden aus einem mit einer Eingangstür versehenen, rechteckigen oder quadratischen fensterlosen Raum (Cella), in dem das Götterbild »wohnte«, sowie einer vorgelagerten Halle (Mandapa). Leider sind von den Tempeln der ersten nachchristlichen Jahrhunderte kaum Überreste erhalten, da sie aus vergänglichem Material wie Holz erbaut wurden. Die überlieferten Tempel entstanden unter den Gupta-Herrschern (4.-6. Jahrhundert n. Chr.). Die aus gebrannten Ziegeln gemauerten oder in Stein gemeißelten Bauten setzen sich zusammen aus einem Unterbau, der eine Cella mit Umgang umfasst, auf dem der Gläubige das Kultbild umwandeln kann, sowie dem Mandapa. Der Kultraum war in der Regel mit einem Turm versehen, die Halle mit einem Flachdach.
 
Mit der zunehmenden Verbreitung des Hinduismus in den folgenden Jahrhunderten und der damit verbundenen Entwicklung der Rituale und Zeremonien wuchs der Bedarf an größeren Räumlichkeiten. Das andachtsvolle Umwandeln des Allerheiligsten gewann immer umfassendere Bedeutung im Ritual des Gläubigen, sodass man bald dazu überging, die Cella auf einen Sockel zu heben, der genügend Platz für die Umwandlung bot. Charakteristisches Merkmal wird nun der Shikhara, ein Tempelturm, der anfangs horizontal, später vertikal bestimmt ist; dabei bilden Turm und Cella eine Einheit.
 
Als in der Nachfolge der Gupta-Herrscher ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. das Land in kleinere Staaten mit eigenen Königen und Fürsten zerfiel, wuchs der Stellenwert von Tempelstiftungen. Um religiöse Verdienste ansammeln zu können und so früh den Existenzenkreislauf zu überwinden, förderten die Herrscher den Bau von Tempeln und die Aufstellung von Kultbildern. Sie unterstützten die Glaubensgemeinschaften teilweise sehr freigebig und stellten so auch ihre weltliche Macht zu Schau. Natürlich gewannen sie dadurch immer größeren Einfluss, sodass Herrschaft und Religion bald eine nahezu untrennbare Einheit bildeten.
 
In den einzelnen Regionen des indischen Subkontinents entwickelten sich eigene, charakteristische Baustile, die ganz unterschiedliche Tempeltypen hervorbrachten. Der meist als nordindisch bezeichnete Architekturtyp besteht aus einem Turm (Shikhara), der sich in klarer Trennung vom Unterbau über der Cella erhebt; dank der Kragschichten des »falschen« Gewölbes verengt sich der Raum über der Cella. Die wenig später erbauten Tempel Orissas weisen eine Einheit von Turm und Cella auf. Im 11. Jahrhundert schließlich wird aus dem einteiligen Turm ein mehrteiliger. Der südindische Tempeltyp, der unter den Pallava-Herrschern im 7. Jahrhundert n. Chr. Form gewann, zeichnet sich durch ein pyramidenförmig geschichtetes Dach aus. Andere vormals funktionale Elemente, wie etwa die Vorhalle, sind zu untergeordneten Baugliedern geworden. Unter der Herrschaft der Guptas entstanden die ersten Freibautempel in Mahabalipuram und Kanchipuram im Südosten des Subkontinents. Die auch hier durch den pyramidalen Aufbau hervorgehobene Cella wird nun von Einzelkapellen umgeben.
 
Als Zentrum ritueller Aktivitäten repräsentiert der Hindutempel nicht nur die Brücke zwischen Göttern und Menschen, die eine persönliche Begegnung ermöglicht, er wird vielmehr gleichnishaft gesehen als Essenz des Kosmos, den er abbildet und mit dem er im Ritual gleichgesetzt wird. Jedes architektonische Detail weist auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos hin. Der Tempelturm hat die symbolische Bedeutung eines Berges, er stellt den mythologischen Weltenberg Meru dar, auf dem die Götter wohnen. Er gilt als Zentrum des Universums und bildet den Orientierungspunkt für die ihn umgebenden, konzentrisch angeordneten Kontinente, Meere und Planeten. Das Allerheiligste, das Sanktum (Garbhagriha), in dem sich das Götterbild befindet, ist stets fensterlos und damit nahezu dunkel. So führt der Weg zum Götterbild für den gläubigen Hindu aus der von starken optischen Eindrücken geprägten Helligkeit in die spirituelle Dunkelheit. Das Betreten des Tempels ist verbunden mit dem symbolischen Aufstieg zur Bergspitze, deren höchster Punkt in einer Achse mit der Mitte des Allerheiligsten liegt. Diese Achse ist die Weltenachse, Mittelpunkt des Berges Meru, der die Stütze des Universums darstellt.
 
Anleitungen zum Tempelbau sind in den Texten über Architektur, den Shastras und Agamas, zu finden. Hiernach soll der Tempelgrundriss ein geometrisches Diagramm (Mandala) sein, das dem Universum nachgebildet ist. Es besteht aus einem großen Quadrat, das gitterartig in kleinere Quadrate aufgeteilt ist. Jedes dieser Quadrate stellt den Sitz einer bestimmten Gottheit dar, während das größere Quadrat im Zentrum die Hauptgottheit des Tempels beherbergt.
 
Der Zeitpunkt für den Bau des Tempels wird auf der Grundlage astronomischer und astrologischer Vorhersagen gewählt, der Grundriss gewöhnlich in ostwestlicher Achse ausgerichtet. Die Proportionen des Tempels selbst und die der Gottheiten sind strengen Vorgaben unterworfen, die in den jeweiligen Texten vorgegeben sind. Auch die Plätze, die die Gottheiten im Innern des Tempels oder an den Außenwänden einnehmen sollen, sind darin festgelegt. Außerordentlich wichtig ist es, den Tempel vor bösen Mächten zu schützen. Diese Funktion übernehmen im allgemeinen die Hüter der Himmelsrichtungen (Lokapalas), die an den vier, acht oder mehr Kardinalspunkten aufgestellt sind. Fruchtbarkeits- und glückbringende Gottheiten, wie erotische Frauenfiguren, die Göttin Lakshmi oder der Elefantengott Ganesha, finden sich am Tempeleingang oder auf dem Türsturz. Im Innern des Tempels können neben der Hauptgottheit religiöse Bildwerke stehen, die ihre verschiedenen Aspekte aufzeigen.
 
Prof. Dr. Marianne Yaldiz
 
 
Sivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.

Universal-Lexikon. 2012.

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